Monatelang hatte die britische Regierung gestritten, vergangene Woche dann legte sie endlich ihren Plan für den Austritt aus der EU vor. Nun hat Brüssel erstmals offiziell reagiert – und sagt freundlich, aber bestimmt: So nicht.
Sicher, das Weißbuch der britischen Premierministerin Theresa May könne in Teilen eine Basis für konstruktive Verhandlungen bieten, sagte EU-Chefunterhändler Michel Barnier nach einem Treffen mit den EU-Europaministern am Freitag in Brüssel. In Fragen von Verteidigung und Sicherheit etwa sei man nahe beieinander, 80 Prozent des Abkommens über die Details des Austritts seien bereits ausverhandelt. Doch in den wirklich wichtigen Punkten, das machte Barnier klar, gibt es kaum nennenswerte Fortschritte.
Der für die EU wichtigste Punkt ist laut Barnier der Schutz des gemeinsamen Binnenmarkts und der Zollunion. Das umfasst auch die Unteilbarkeit der vier Grundfreiheiten: den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Immer wieder hatte Barnier betont, dass man britisches Rosinenpicken an dieser Stelle nicht akzeptieren werde.
„Wie sollen wir unsere Verbraucher schützen?“
Mit dem Weißbuch aber versucht die britische Regierung genau das. London will nicht nur die Zuwanderung aus der EU streng begrenzen, sondern zugleich auch einen selektiven Zugang zum Binnenmarkt: Der Handel mit Waren soll ohne Hindernisse weitergehen, die Dienstleistungen sollen jedoch außen vor bleiben.
Barnier gefällt das überhaupt nicht. Im Brüsseler Ratsgebäude wedelte er vor Journalisten mit seinem Handy: „20 bis 40 Prozent des Werts dieses Geräts hängt mit Dienstleistungen zusammen.“ Würde man den Briten gestatten, ihre Waren frei in die EU zu bringen, ohne sich noch an die Regeln für Dienstleistungen halten zu müssen, könnten sie sich unfaire Vorteile verschaffen. Er würde von London gerne wissen, wie man das verhindern solle, sagte Barnier.
Zudem sei Großbritannien lediglich bereit, sich nur an jene EU-Standards für Waren zu halten, die an der Grenze geprüft werden – nicht aber an alle anderen, darunter genmanipulierte Nahrung oder Pestizide. „Wie sollen wir unsere Verbraucher schützen?“, fragte Barnier.
Auch der britische Vorschlag für ein neues Zollsystem stößt in Brüssel auf Ablehnung. Für Produkte, die aus Drittländern in die EU gehen, will London EU-Zölle erheben – und eigene Zölle auf Waren, die für den Markt im Königreich bestimmt sind. Die EU soll an ihren Außengrenzen ebenfalls zweierlei Zölle verlangen. „Wie sollen die Zollbehörden das Endziel von Waren erkennen und die richtigen Zölle erheben?“, fragte Barnier. „Wir würde man Betrug verhindern? Was wären die finanziellen und administrativen Kosten für Unternehmen?“ Eines jedenfalls sei klar, so Barnier: „Der Brexit kann und wird kein Grund für zusätzliche Bürokratie sein.“
May: EU soll Position „entwickeln“
Theresa May gab sich von derlei Fragen unbeirrt. Jetzt sei die EU am Zug, ihre Position zu „entwickeln“, sagte die Premierministerin am Freitag in einer Rede im nordirischen Belfast. Die EU dürfe „nicht auf Standpunkte zurückfallen, die sich als nicht funktionsfähig erwiesen haben“. Das klang fast so, als habe die EU sich für den Brexit entschieden – und dass es folglich an ihr sei, den Schlamassel zu beheben.
Barnier spielte den Ball prompt zurück. Großbritannien wolle die EU verlassen – „und es gibt keinen Grund, warum EU-Unternehmen die Last dieser Entscheidung tragen sollten“. Erst recht gebe es für die EU keinen Anlass, ihren Binnenmarkt zu schwächen, „nur weil Großbritannien austreten will“. Der gemeinsame Markt sei der wichtigste Vorzug der EU. „Wir werden schützen, was wir sind“, sagte Barnier.
Das könnte auf einen harten Konflikt hinauslaufen, denn die Briten haben ihre Position nach Veröffentlichung des Weißbuchs noch verschärft. Am Montag setzten Brexit-Hardliner im britischen Unterhaus Änderungen an einem Zollgesetz durch, welche die Verhandlungen an einem weiteren wichtigen Punkt massiv erschweren: der irischen Grenzfrage.
Rückschritt bei Verhandlungen über irische Grenzfrage
Um zu verhindern, dass durch den britischen Austritt aus EU-Binnenmarkt und Zollunion eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland entsteht, hat London der EU ein Versprechen gegeben: Nordirland werde in „voller Übereinstimmung“ mit den EU-Regeln bleiben, sollte keine andere Lösung gefunden werden.
Das nun beschlossene Gesetz aber entwertet dieses Versprechen. Es legt fest, dass es in Nordirland nach dem Brexit keine anderen Zollbestimmungen geben darf als im Rest Großbritanniens. Eine harte Grenze wäre dann kaum noch vermeidbar.
Der Stillstand in den Verhandlungen erhöht die Gefahr, dass Großbritannien am 29. März 2019 ohne Austrittsabkommen aus der EU fällt, was dramatische Konsequenzen hätte. „Das No-Deal-Szenario war nie so wahrscheinlich wie jetzt“, erklärte der polnische Europaminister Konrad Szymanski. „Wir können derzeit nichts ausschließen“, sagte SPD-Europastaatsminister Michael Roth am Freitag vor dem Treffen mit seinen Amtskollegen in Brüssel. „Wir arbeiten hart daran, dass es zu einem möglichst weichen Brexit kommt.“
Allerdings müsse man sich auf jedes Szenario einstellen. „Die Zeit läuft ab“, so Roth. „Deshalb bin ich ein bisschen nervös.“
Zusammengefasst: Die EU hat erstmals offiziell auf den Brexit-Plan der britischen Regierung reagiert – und weist ihn in zentralen Punkten zurück. Brüssel befürchtet insbesondere eine Schwächung des Binnenmarkts, der zur Daseinsberechtigung der EU gehört. In einem weiteren wichtigen Punkt, der irischen Grenzfrage, gibt es sogar einen Rückschritt.
Source
http://www.spiegel.de/politik/ausland/weissbuch-eu-weist-brexit-plan-von-theresa-may-zurueck-a-1219464.html